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Michael Wertmüller
Michael Wertmüllers Musik ist einerseits von roher Kraft, andererseits spekulativ. Seine frühen handgeschriebenen Partituren sehen wüst aus: dicht beschriebene Notenzeilen, fleckig schwarz, die eine entsprechende Dynamik der Musik suggerieren. Tatsächlich ist diese oft rebellisch, dreinschlagend - Wertmüller ist ein virtuoser, auch wilder Schlagzeuger - und scheinbar chaotisch. Einigen seiner Stücke liegen Texte zugrunde: in Dunkel-Zeiten welche von Nietzsche, in Das Zimmer solche von Beuys, in William ein skurriles Theaterstück von Thomas Bernhard; Entleibung geht über ein Triptychon von Francis Bacon. Freilich sind die Text-Bilder nicht Sujets, die dann in Musik abgemalt werden, sondern eher Anstöße für musikalische Prozesse - eines sich in Rhythmen und Klängen entfaltenden Expressionismus. Der etwas fast altmodisch Genialisches hat: unmittelbare Äußerung einer kraftvollen Originalität; auch die Entstehungsprozesse seiner Stücke sind eruptiv, zuweilen allerdings auch zähfließend.
Indes ist das Vulkanische bei Wertmüller doch streng kontrolliert. Der Schlagzeuger, in seinem Agieren zwar stark körperlich und sinnlich, ist von seiner (guten!) Ausbildung her dressiert in komplexen Zeitverläufen. Septolen, 11-tolen, 15-tolen werden in traumwandlerischer Sicherheit geschlagen, so daß das Auftauchen eines „normalen” Viervierteltakts fast wie ein Schock wirkt. Die oft extrem schwierigen Zeitstrukturen seiner Stücke basieren wohl mit auf perkussiven Erfahrungen, die dann eben in der Komposition rationalisiert und überaus diffizil durchgearbeitet werden. Entsprechend „verrückt” sehen die - seit einiger Zeit per Computer geschriebenen - Notenbilder aus. Da finden sich Takte wie 19·7 39·7 41·5 57·7 97·9
256 1024 4096 512 2048 (in Tonio W.)
und es sind nicht nur (wie freilich auch schon beim späten Beethoven) 64stel Werte verzeichnet, sondern auch sechs- und siebenbalkige 256stel und 512tel - und darüber hinaus. (Bei der Erstellung eines seiner Stücke gab der Computer auf - war mit der Auf-/Eingabe der extrem komplexen Notenbilder schlicht überfordert!) In Wertmüllers Stück die zeit. eine gebrauchsanweisung haben die fünfzehn Musiker die Noten von Bildschirmen zu lesen, auf denen diese wie ein Film ablaufen; und das deshalb, weil jede Einzelstimme ein eigenes Zeitmaß hat. Die Stimmen aber „werden von einem Generalcomputer gesteuert, der wie ein fünfzehnarmiger Dirigent funktioniert und die fünfzehn verschiedenen Tempi gleichzeitig angibt” (was sich bei der Donaueschinger Uraufführung leider nicht dem Publikum vermitteln ließ - es konnte nicht mitlesen).
Indes sind die Musiker bei Wertmüller permanent überfordert: fast durchweg wird ihnen materiell, instrumental und mental rhythmisch Unspielbares - Unmögliches! abverlangt. In den Entleibungsstücken sind es aberwitzige Geschwindigkeiten der Streicherfiguration, was nicht nur emotionale Wildheit erzeugt und darüber hinaus den sekundären Ausdruck von Überanstrengung und einer quasi ekstatischen Überkonzentration; aber auch eine quasi jenseitige elektronische Klanglichkeit hervorbringt. Also ereignet sich eben Entleibung - und es entsteht etwas Metaphysisches; ein jenseits von Physis und Natur.
Hierin zeigt sich das Spekulative von Wertmüllers Kunst. Konstruktion ist stets die Basis - sei es eine anscheinend simple über die Reihe von Weberns Streichquartett op. 28 (einem seiner verborgenen, stillen Götter) - weshalb das Saxofonquartett denn auch Tonio W. in 100 Takten heißt, seien es die Akkordkonfigurationen aus einer meiner Bagatellen (Elysium (Filmmusik)), aber solche Materialien werden mit äußerster logischer Konsequenz durch den modernsten chaotischen Computerwolf gedreht, bis sie selbst bei allem Ausdruck, der dabei abfällt, anfangen, übersinnlich zu tönen.
Wertmüller ist eine widersprüchliche Figur. Einerseits verborgen traditionsbezogen (sh. o.), sogar verquer schweizerisch beheimatet (13 (!) Stücke für Steamboat Switzerland oder Wertmüller upon his way to the Zivilschutz) andererseits (schmerzlich?) angesiedelt in der Computerwelt und extrem technologischen Verfahrensweisen; einerseits insgeheim romantisch (der Tristanbezug in die zeit), auch als Jazzspieler und im Leben; andererseits mit modernsten Materialien und Verfahrensweisen arbeitend. So ist seine Person wie seine Musik „genialisch”, altertümlich sentimental und ganz neuzeitlich technologisch und erfinderisch. Auf der Suche nach der Utopie - jenem Nicht-Ort, wo Unmögliches womöglich möglich wird, sich ereignet in einem Augenblick potenzierter Zeit. Ich wünsche ihm Glück!!!
Dieter Schnebel
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